Deutschland ist bislang vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Die Sterberate ist niedrig und es waren weniger strenge Lockdown-Regelungen notwendig als in anderen Ländern. Eben jene Regelungen sind für die Allermeisten zwar nervig, Herz und Verstand akzeptieren sie jedoch. Für eine Gruppe von Menschen sind einige der Maßnahmen aber ein Segen: Autisten. „Mahlsdorf LIVE“ traf die Mahlsdorferin Stephanie Fuhrmann, die selbst Autistin ist und vor fünf Jahren am Hultschiner Damm den Verein „White Unicorn e.V.“ zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes mit gründete, und sprach mit ihr über Corona-Maßnahmen – welche sie als „Segen“ bezeichnet.
Abstand: Für viele Autisten ist die Regel des 1,5 Meter-Abstand laut Stephanie Fuhrmann „absolut toll“. Ungewollte Berührungen, etwa in U- oder S-Bahn, finden nun nur noch äußerst selten statt. Selbst leichte ungewollte Berührungen fühlen sich für die ultrasensible Autistin viel intensiver an, „auch ein Antippen kann schon schmerzhaft sein“, so Fuhrmann. „Dieses wird von einigen Autisten wie ein Schlag wahrgenommen. Die Stelle wird dann taub oder es wird einem gar übel, weil man berührt wurde.“
Lautstärke: Natürlich besuchen Autisten auch Konzerte oder andere Großveranstaltungen. Abgesehen von der Lautstärke und dem Lärmpegel sind vor allem die vielen Bewegungen ein großes Problem. Durch die Zuschauerbeschränkungen finden diese viel weniger statt und Autisten sind weniger gestresst. Stephanie Fuhrmann: „Eine traumhafte Barriereabbaumaßnahme für viele autistische Menschen.“ Außerdem sind Autisten durch die Einschränkungen der Bewegung weniger Lärm ausgesetzt – durch welchen sie schneller krank werden würden als Menschen mit einer anderen Neurobiologie.
Schule: Autistische Kinder, und auch Kinder mit autistischen Eltern, profitieren ungemein von der den Schulen auferlegten Regelungen. Die LehrerInnen müssen plötzlich Material online zur Verfügung stellen, sie bieten Kleingruppen an, führen Video-Unterricht durch – „autistische Kinder können so in ihrem gewohnten Umfeld zuhause lernen und sich durch die Abkopplung von der gesamten Klasse erholen, verpassen aber keinen Stoff“, so Fuhrmann. „Das ist etwas, was wir vor Corona immer gefordert haben. Nun wird es, auch wenn durch Zwang durch eine Krankheit, zur Realität.“
Freie Ortswahl: Firmen akzeptieren und fördern seit dem Beginn der Corona-Pandemie das Home Office. „Der Arbeitsplatz zu Hause ist für erwachsene Autisten ebenso ein riesiger Vorteil. Statt anstrengenden Großraumbüros ist volle Konzentration möglich“, so Fuhrmann. Schon die verschiedenen wechselnden Untergründe (Asphalt, Kopfsteinpflaster, Treppen, Baustellen Metall in Bus und Bahn) auf dem Weg zum Arbeitsplatz können für Autisten zur Belastung werden. Fuhrmann: „Ich muss mich beispielsweise auf jede Treppenstufe einzeln konzentrieren.“
Soziales: Vielen Autisten fällt es leichter, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren. „Gehe ich im Büro gerade die Treppen hoch und der Kollege sagt ‚Guten Morgen‘, erwartet er natürlich eine sozial übliche Reaktion“, beschreibt Stephanie Fuhrmann. „Da ich aber gerade so sehr damit beschäftigt bin mich auf die einzelnen Stufen zu konzentrieren, rutscht mir vielleich nur ein ‚Mmmmh‘ heraus. Dann ist jemand, der mich nicht kennt, natürlich beleidigt.“ Dank der Corona-Maßnahmen und der Möglichkeit des Home Office bedeutet geselliges Beisammensein zum Meeting dann eher eine virtuelle Konferenz, ganz ohne Barrieren.