Der Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus, Samuel Salzborn, hat eine Studie zur Überprüfung von Berliner Straßennamen in Auftrag gegeben. Durchgeführt wurde sie vom Leipziger Politikwissenschaftler Dr. Felix Sassmannshausen, nun ist das Ergebnis da. Demnach wurden bei 290 Straßennamen in Berlin antisemitische Bezüge festgestellt, Sassmannshausen empfiehlt in 101 Fällen eine Umbenennung der Straße als nächsten oder nach vertiefenden Forschungen weiteren Schritt. Betroffen sind davon auch Straßen in Mahlsdorf.
Arndtstraße: Die 530 Meter lange Seitenstraße zwischen Roedernstraße und dem Wald Uhlenhorst existiert seit 1907, ist nach dem Dichter und Politiker Ernst Moritz Arndt (1769–1860) benannt. Dieser war laut der Studie Vertreter eines aggressiven Nationalismus, den er mit
antifranzösischen Ressentiments begründete. In dem Kontext äußerte er sich auch offen frühantisemitisch, welches in seinem nationalistischen Weltbild begründet liegen soll. Die Universität Greifswald ist aufgrund des Antisemitismus in Arndts Weltbild umbenannt
worden, in Leipzig scheiterte eine derartige Initiative zur Umbenennung der Arndtstraße. Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt eine Umbenennung der Mahlsdorfer Straße (die es in mehreren Bezirken ebenfalls gibt).
Lohengrinstraße: Mit nur 60 Metern, abgehend von der Bausdorfstraße, seit 1910 eine der kürzesten Straßen in Mahlsdorf. Nur zwei Nummern gehören überhaupt zum Ortsteil, die restlichen zu Kaulsdorf. Benannt ist sie nach einer Oper von Richard Wagner. Dieser war laut der Studie überzeugter Antisemit und Verfasser der antisemitischen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ (1850). Werk und Weltbild lassen sich laut Sassmannshausen u.a. deshalb nicht trennen, er empfiehlt eine Umbenennung der Straße.
Lutherstraße: Sie verbindet den Hultschiner Damm in West-Ost-Führung mit der Wolfsberger Straße, ist 300 Meter lang und seit 1902 nach dem Theologen und Reformator Martin Luther (1483–1546) benannt. „Martin Luther verfasste antijüdische Schriften und war prägend für die weite Verbreitung des christlich motivierten Antijudaismus“, heißt es in der Studie. Der Berliner Antisemitismus-Beauftragte Salzborn sagte, dass es in der evangelischen Landeskirche sehr engagierte Akteure gebe, die sich intensiv und selbstkritisch mit dem Thema Judenfeindlichkeit auseinandersetzen. Die Antisemitismus-Beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Pfarrerin Marion Gardei, sagte laut „Welt“, dass Martin Luther „zweifelsohne furchtbare antijüdische Aussagen“ gemacht habe, an denen es nichts zu beschönigen gebe. „Martin Luther steht trotz seiner judenfeindlichen Äußerungen aber auch für die radikale Erneuerung der Kirche und des christlichen Glaubens. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit seinem Denken für die evangelische Kirche existenziell und unverzichtbar.“ Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt deshalb eine Umbenennung.
Jahnstraße: Die 160 Meter lange Straße verbindet die Wolfsberger mit der Pilgramer Straße und ist nach dem Pädagogen Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), genannt „Turnvater“, benannt. Jahn war laut der Studie einer der wichtigsten Vertreter des aufsteigenden deutschen Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Mitbegründer der Turnbewegung. In seinen Schriften kolportierte er frühantisemitische Tropen. Praktisch wurden Juden und Jüdinnen von
vornherein aus der Mitgliedschaft im von ihm mitbegründeten geheimen Männerbund Deutscher Bund ausgeschlossen. Es soll auch konvertierten Juden nicht möglich gewesen sein, Mitglied zu werden. Die Debatte um Jahn als Namensgeber schwelt in Berlin seit Jahren, etwa beim Stadion im Prenzlauer Berg. Die Initiative „Sport ohne Turnväter“ drängte schon 2011 auf eine Umbenennung. Jahn habe sich etwa im Buch „Deutsches Volksthum“ chauvinistisch und antisemitisch geäußert, hieß es zur Begründung: „Jahn darf mit seinem Gedankengut nicht die größte Sportanlage Nordberlins repräsentieren, zumal diese mit der Ausrichtung von Veranstaltungen wie den ,Respect Gaymes‘ der schwul-lesbischen Gemeinde ganz besonders für Offenheit und Toleranz steht.“ Im Senat scheiterte das Vorhaben jedoch im Jahr 2019. Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Recherche und gegebenenfalls eine Umbenennung.
Fritz-Reuter-Straße: Sie verbindet mit ihren 160 Metern die Hönower Straße mit An der Schule und ist benannt nach einem zwischen 1810 und 1874 lebenden Schriftsteller, Dichter und Publizisten. Die Namensvergabe erfolgte auf Antrag eines in Mahlsdorf lebenden Namensvetters, dem Landmesser Fritz Reuter. Laut der Studie bediente er antijüdische Klischees und frühantisemitische Stereotype in seinen Werken. Aber: Sassmannshausen sieht hier eine dünne Quellenlage und empfiehlt weitere Forschung, gegebenenfalls jedoch eine Kontextualisierung der Straße etwa mit einem zusätzlichen Schild.
Herderstraße: Sie reicht von der Roedernstraße in Nordost-Südwest-Richtung bis zur Bergedorfer Straße, ist 270 Meter lang und seit 1920 nach dem Dichter Johann Gottfried Herder (1744–1803) benannt. Die Studie sieht frühantisemitische Motive in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (dritter und vierter Teil). Sassmannshausen empfiehlt eine digitale Kontextualisierung, also das bei Online-Einträgen zur Straße auf diese Motive hingewiesen wird.
Melanchthonstraße: Der Süd-Nord-Straßenzug beginnt als Sackgasse etwa 100 Meter südlich der Markgrafenstraße in der Nähe des Rohrpfuhls, verläuft bis zum sogenannten Piratenspielplatz zwischen Am Lupinenfeld und Albrecht-Dürer-Straße, setzt sich dann weiter nordwärts fort und endet wiederum als Sackgasse am Sportplatz Am Rosenhag. Benannt ist die Straße nach dem Reformator Philipp Melanchthon (1497-1560). Dieser setzte sich laut Studie zwar für die Verbesserung der Lage von Juden ein, teilte aber
antijüdische Ressentiments. Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Recherche und gegebenenfalls eine Kontextualisierung.
Pestalozzistraße: Sie verläuft seit circa 1900 zwischen Hönower und Landsberger Straße, ist 620 Meter lang und nach dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) benannt. In der jüngeren Forschung gibt es laut Studie Erkenntnisse über frühantisemitische Motive im Werk von Pestalozzi. Eine weitere Forschung müsste demnach die mögliche Kontinuität antisemitischer Ressentiments bei Pestalozzi in den Blick nehmen, heißt es. Auch hier werden weitere Recherchen und Kontextualisierungen empfohlen.
Roedernstraße: Sie ist rund einen Kilometer lang und beginnt am Hultschiner Damm im Osten, endet kurz vor der Grenzstraße im Westen und setzt sich in Kaulsdorf als Eschenstraße fort. Der Niederbarnimer Landrat Siegfried von Roedern (1870–1954) wird in mehreren Berliner Ortsteilen, die vormals zu „seinem“ Kreis gehörten, in Straßennamen geehrt, da er besonders den Chausseebau förderte. Allerdings war Roedern auch Finanzpolitiker und Reichsstaatssekretär unter Adolf Hitler. Er beantragte laut Studie 1933 die Mitgliedschaft in der NSDAP (1935 angenommen) und wurde später Ehrenmitglied der SS. Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Forschung und gegebenenfalls eine Kontextualisierung.
Roseggerstraße: Sie verbindet über 220 Meter den Hultschiner Damm mit der Mechthildstraße. Benannt wurde sie nach dem österreichischen Schriftsteller Peter Rosegger (1843–1918). Dieser teilte antisemitische Ressentiments, teilweise wurde er jedoch selber von völkischen Kreisen antisemitisch angegangen. Er positionierte sich gegen brachialen Antisemitismus. Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Forschung und gegebenenfalls eine Kontextualisierung.
Sudermannstraße: Sie ist 580 Meter lang, war bis 1936 nach dem Generaldirektor der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik in Berlin, Herrmann von Budde, benannt. Seitdem trägt sie den Namen des Schriftstellers Herrmann Sudermann (1857–1928), der laut Studie in Briefen antisemitische Ressentiments artikulierte. Diese kommen etwa in einer Post an seine Frau aus dem Kuraufenthalt vor, in welcher er generalisierend „vom Berliner Judenquartier“ spricht. Die Sudermannstiftung vermerkt in einem Newsletter aus dem Jahr 2018: „Die Ressentiments, die Sudermann angesichts jüdischer Touristen erfüllen, kommen noch unverhohlener in seinem Tagebuch zum Ausdruck: ‚Nach St. Moritz -Bad hinunter – tausend Berliner Juden getroffen, die mich anglotzen u. hinter mir her „Sudermann“ schreien.‘ Zwar empfindet Sudermann die Anwesenheit jüdischer Mitreisender nicht immer als störend, doch stets wird er deren Religionszugehörigkeit vermerken.“ Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Forschung und gegebenenfalls eine Kontextualisierung.
Waldowstraße: Die 260 Meter lange Trasse führt von der Treskowstraße südwärts über die Thorner Straße hinweg und endet am Waldowpark. Seit 1902 ist sie benannt nach dem preußischen Staatsbeamten Wilhelm von Waldow (1856–1937). Dieser war Vorsitzender des Landesverbandes Mecklenburg-Strelitz der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei. Von 1923 bis 1932 war er für die DNVP Abgeordneter im Mecklenburgischen Landtag. .“ Dr. Felix Sassmannshausen empfiehlt eine weitere Forschung und gegebenenfalls eine Kontextualisierung.
Mit der Veröffentlichung der Studie will Samuel Salzborn eine gesellschaftliche Debatte über Straßen anstoßen, die nach historischen Persönlichkeiten benannt sind, die sich antisemitisch geäußert haben oder sogar einem gefestigten antisemitischen Weltbild anhingen. Studienautor Sassmannshausen hält ein tieferes historisches Bewusstsein über die Geschichte des Antijudaismus und modernen Antisemitismus für notwendig, um „die Demokratie gegen ihre Feinde zu stärken“. In den Ausführungsvorschriften zum Berliner Straßengesetz heißt es, dass Umbenennungen möglich sind, wenn Straßennamen „nach heutigem Demokratieverständnis negativ belastet sind und die Beibehaltung nachhaltig dem Ansehen Berlins schaden würde“. Zuständig wäre für Mahlsdorf der Bezirk Marzahn-Hellersdorf.