Hilfeschrei aus Mahlsdorfer Kita: „Wir sind am Limit“

Die Regelungen des Berliner Senats zur Notbetreuung in Kitas sorgen für einen physischen und psychischen Stresstest in den Einrichtungen. Der Grund: ganze 31 Seiten lang ist die Liste der „systemrelevanten Berufe“. Findet sich auch nur ein Elternteil eines Kitakindes darauf, haben sie Anspruch auf die Notbetreuung des Nachwuchses. Dazu kommen die Kinder Alleinerziehender und Vorschulkinder. Für die Mahlsdorfer Kita „Kinderland“ in der Dirschauer Straße bedeutet das etwa, dass von derzeit 70 Vertragskindern lediglich fünf nicht anspruchsberechtigt sind – 92,9 Prozent der Kinder dürfen kommen. Um das Infektionsrisiko zu minimieren arbeiten die Erzieher:innen in der Kita nach einem vom Senat empfohlenen Hygienekonzept und sorgen für stabilegleichbleibende Gruppen mit festem Personal. Krankheitsausfälle, Urlaube und Betreuung der eigenen Kinder bringen jedoch immer wieder vor große personelle Schwierigkeiten mit sich. So etwa müssen Mitarbeiter:innen aus Risikogruppen in voll belegten Gruppen arbeiten, um überhaupt den Betrieb zu gewährleisten. Hinzu kommen notwendige Umbauten der Gruppenräume, die allerdings zu Lasten des Arbeitsschutzes gehen sowie ein steigendes Zoff-Level mit Elternteilen.

Das Kollegium der Mahlsdorfer Kita schrieb deshalb nun einen Brandbrief mit detailliert aufgeführten Problemen an die Bundesfamlienministerin Franziska Giffey, die für Familie zuständige Senatorin Sandra Scheeres sowie den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (alle SPD). Mit dramatischen Sätzen: „Alle Mitarbeiter setzen täglich ihre Gesundheit und die ihrer Familienmitglieder aufs Spiel. Wir Erzieher sind nach einem Jahr ständig wechselnder Maßnahmen am Limit.“ Oder: „Das, liebe Politiker ist die Realität in unserer Einrichtung und führt unweigerlich dazu, dass Erzieher erkranken oder ausbrennen!“

„Alles Mahlsdorf“ veröffentlicht den Brief hier in voller Länge:

Offener Brandbrief

Sehr geehrte Frau Dr. Giffey, sehr geehrte Frau Scheeres,

wir, das pädagogische Fachpersonal des Kinderland-Mahlsdorf wenden uns hiermit in einem offenen Brandbrief an Sie. Seit dem 17.03.2020 ist unsere Kita wie alle in Berlin immer wieder in Notbetreuung. Zu Beginn waren eine Handvoll Kinder anwesend. Jeder Elternteil, der es möglich machen konnte, hat versucht, sein Kind zu Hause zu lassen, um seine Familie aber auch unsere Erzieher zu schützen und die Kontakte zu minimieren. Es gab Kinder, die haben unser Haus, die ihnen anvertrauten Erzieher, ihre Freunde in der Gruppe in dieser Zeit, die nun mehr als ein Jahr andauert, weniger als einen Monat gesehen. Nun sind wir erneut in der sogenannten Notbetreuung. Das Wort selbst sieht auf dem Papier gut aus und klingt in den Medien, als würde man Kinder und Erzieher schützen und die Kontakte minimieren. Leben können wir es im Kiku Kinderland Mahlsdorf schon lange nicht mehr. Derzeit sind von den 70 Vertragskindern lediglich fünf nicht anspruchsberechtigt. Das entspricht einer Anspruchsberechtigung von 92,9%. Dies ist keine Kontaktminimierung, sondern eine Diskriminierung einiger weniger Kinder und Familien!

Die hohe Auslastung kommt unter anderem durch eine mittlerweile 31-seitige Liste mit systemrelevanten Berufen, auf der sich fast jeder wiederfindet, zu Stande. Hierbei müssen wir uns auf die Aussagen der Eltern verlassen, da wir nicht berechtigt sind Nachweise vom Arbeitgeber einzufordern. Zusätzlich gibt es zahlreichen Sonderregelungen, wie Vorschüler, Alleinerziehende, Personen im Mutterschutz und besonderer Betreuungsbedarf, um nur ein paar aufzuzählen.

Um das Infektionsrisiko zu minimieren arbeiten wir, wie vom Senat empfohlen, nach dem Hygienekonzept und sorgen für stabile gleichbleibende Gruppen mit festem Personal. Krankheitsausfälle, Urlaube und Betreuung der eigenen Kinder stellen uns immer wieder vor große personelle Schwierigkeiten. Mitarbeiter aus Risikogruppen arbeiten in voll belegten Gruppen weiter, um den Betrieb zu gewährleisten. Auch wir haben eigene Kinder, müssen die Notbetreuung in anderen Einrichtungen in Anspruch nehmen, die verkürzte Öffnungszeiten haben, minimieren unsere privaten Kontakte und haben Risikopatienten in der eigenen Familie. AlleMitarbeiter setzen täglich ihre Gesundheit und die ihrer Familienmitglieder aufs Spiel. Auch zwei Schnelltests in der Woche bieten uns keinen Schutz vor einer Corona-Infektion. Das Impfangebot geht nur schleppend voran. Denn auch wenn wir mittlerweile Einladungen haben, so sind Termine mit wochenlangen Wartezeiten verbunden.

Wir sollen also Hygienemaßnahmen einhalten? Auf Grund der räumlichen Gegebenheiten in unserer Kita ist es nicht möglich, dass jede Gruppe ihr eigenes Bad nutzt. Kinder aus verschiedenen Gruppen müssen zur selben Zeit gewickelt werden. Das hat zur Folge, dass improvisierte Wickelkommoden in den Gruppenräumen eingerichtet werden, die jeglichem Arbeitsschutz für die Mitarbeiter widersprechen und auf dem zweijährige Kinder kaum noch Platz finden. Gleichzeitig befindet sich eine improvisierte Garderobe in den Räumlichkeiten, wo die Kinder an-und ausgezogen werden müssen, weil die Eltern die Gruppenräumenicht betreten sollen. Wir spielen hier, wir essen hier, wir wickeln hier, wir schlafen hier. Unsere Gruppenräumewerden also immer kleiner aber die Auslastung in den Gruppen immer höher. Wir wissen nicht mehr, wie wir die vom Senat – und uns so wichtigen–Hygienestandards einhalten sollen, um die Gesundheit aller Anwesenden bestmöglich zu schützen.

Widersprüchliche Aussagen und schwammige Formulierungen vom Senat führen zu ständigen Diskussionen mit Eltern. Die Verantwortung für die Umsetzung wirdauf die Leitung und die Erzieher abgewälzt. Dies führt zu einem grundlegenden Misstrauen zwischen Erziehern und Eltern. Die uns so wichtige Elternarbeit ist nach einem Jahr nachhaltig gestört. Wir Erzieher sind nach einem Jahr ständig wechselnder Maßnahmen am Limit. Das, liebe Politikerist die Realität in unserer Einrichtung und führt unweigerlich dazu, dass Erzieher erkranken oder ausbrennen!

Das KiKu Team Kinderland-Mahlsdorf

P.S.: An dieser Stelle möchten wir uns nochmals herzlich für die Corona-Prämie bedanken, die sage und schreibe fünf Mitarbeiter in der Höhe von 80 Euro brutto erhalten haben.

Die Kita „Kinderland“ in der Dirschauer Straße in Mahlsdorf.

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